Volker Lösch, Regisseur am Staatstheater Stuttgart, hat am Mittwoch, 14. November, auf dem Stuttgarter Marktplatz anlässlich des Tages der Solidarität mit den Generalstreikenden in südeuropäischen Ländern eine seiner denkwürdigen Reden gehalten. Auch Stuttgart 21 ist Teil der Rede, denn S21 ist symptomatisch für eine Krankheit der Staatssysteme.
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„Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Widerständige!
Man kann Menschen mit einem Messer töten.
Man kann Menschen mit einer Drohne aus einem 10.000 km entfernten Büro töten: targeted killing.
Man kann Menschen aber auch, ganz ohne Waffen, mit einer menschenverachtenden Politik töten.
In vielen Ländern Südeuropas ist fast die Hälfte der Bevölkerung arbeitslos, Millionen Wohnungen werden gekündigt, Renten unter das Existenzminimum gekürzt; einige können lebensrettende Medizin oder Operationen nicht mehr bezahlen. Die Zahl der Suizide steigt.
Und die vielleicht schlimmste Nachricht der letzten Wochen: UNICEF weist darauf hin, dass mehr als zwei Millionen Kinder in Spanien unter der Armutsgrenze leben!
Zwei Millionen Kinder leben in Armut – in einem der reichsten Länder der Erde! In einer Wirtschaftsunion, die einmal den Anspruch formuliert hat, in guten als auch in schlechten Zeiten solidarisch zusammenzustehen.
Die sich neben ökonomischen auch ethischen und moralischen Grundsätzen verpflichtet hat. Und diese Union hat für das soziale Massaker, welches sie in Teilen ihrer Länder gutheißt, eine zynische Begrifflichkeit parat: Sie nennt ihre Maßnahmen – Reformen!
Wir hier in Stuttgart sind inzwischen so etwas wie Lügen-Spezialisten, werden wir ja seit Jahren und in schöner Regelmäßigkeit von den Vertretern der Merkel-Politik nach Strich und Faden belogen. Belogen vor allem über die Legitimation von Stuttgart 21, einem angeblichen Leuchtturmprojekt der Moderne!
Liebe Freundinnen und Freunde!
Diese Lügenerzählungen werden langfristig keinen Erfolg haben, denn nicht nur in Stuttgart können sie viele nicht mehr hören, glauben sie viele nicht mehr!
Das neoliberale Lügengebäude gibt es seit fast 30 Jahren, aber jetzt steht es vor dem Zusammenbruch: unter dem Druck der Fakten, unter dem Druck der Wiederaufleben des öffentlich-politischen Diskurses, und unter dem Druck eines europaweiten Widerstandes!
Und dennoch werden weiter Halbwahrheiten verbreitet:
Mit schöner Regelmäßigkeit behauptet die deutsche Regierung – und, ihr unkritisch folgend, viele deutsche Medien – dass die Euro-Krise eine direkte und ausschließliche Folge der finanzpolitischen Schlampereien einiger Staaten sei.
Wahr ist jedoch, dass unmittelbar vor der Finanzkrise die heutigen Problemstaaten – noch im September 2008! – als finanzpolitische Musterschüler galten!
Wie kann das sein, was ist da passiert?
Staatsschulden können zur existenziellen Bedrohung werden, wenn Spekulanten und Banken sich gegen ein Land verschwören.
Nicht die Höhe der Schulden, sondern die Zinskosten sind es, die Griechenland, Portugal und Spanien an den Rand der Zahlungsunfähigkeit treiben!
Während die Höhe der Schulden von der Politik bestimmt wird, bestimmen den Zinssatz – die Akteure auf den Finanzmärkten!
Und wenn Schäuble und Merkel behaupten, dass die Krise lediglich durch korrupte und inkompetente politische Entscheidungen in den betroffenen Ländern ausgelöst wurde, dann lassen die Hälfte der Wahrheit einfach weg und unterstellt damit, dass die Akteure auf den Finanzmärkten rational und fair agieren!
Vor einer Woche ist ein spektakulärer Insiderbericht eines ehemaligen Investmentbankers erschienen, der im Frühjahr 2012 bei Goldman-Sachs ausgestiegen ist.
Im Buch von Greg Smith kann man die Wahrheit nachlesen:
Goldman-Sachs hat vor der Bankenkrise Griechenland geholfen, mit Derivaten seine Schulden zu kaschieren, und damit sehr viel Geld verdient.
Und jetzt, nach der Krise, schickt Goldman-Sachs seine Investmentbanker als Berater zur griechischen Regierung, um die durch sie selber verursachten Probleme zu lösen! Und gleichzeitig zeigt dieselbe Bank den großen Hedgefonds, wie sie vom Chaos in Griechenland profitieren können!
Das Zynische an dieser Heuchelei ist, dass die Banker wissen, was sie da tun.
Aber ihre Boni sind einfach zu hoch, viel Geld zu verdienen ist zu einfach, die persönlichen Raubzüge sind zu lukrativ, um davon lassen zu können!
Jeder weiß, dass die Finanzmärkte inzwischen ein Eldorado für Kriminelle geworden sind.
Und was machen unsere Volksvertreter mit diesem Wissen?
Merkel und Schäuble gehen an keinem Mikrofon vorbei, ohne den Medien zu vermelden, dass die Option einer Umschuldung oder ein kompletter Schuldenerlass für die Südländer nicht angestrebt wird.
Damit schüren sie aber immer weitere Angst! Vor dem drohenden Staatsbankrott, vor Zahlungsunfähigkeit; und sie fordern die Spekulanten geradezu dazu auf, abermals höhere Zinsen und Risiko Aufschläge zu verlangen, die die Staaten durch neue diktierte Sparprogramme, die sie natürlich unbedingt erfüllen wollen, wieder in eine Abwärtsspirale nötigen – ein dreckiges und brutales Spiel der Politiker und Finanzakteure, welches auf dem Rücken der jeweiligen Bevölkerungen ausgetragen wird!
Anstatt aber kriminelle Spekulanten in die Schranken zu weisen, heizt die deutsche Regierung durch ihre ideologische Borniertheit Spekulationen gegen Euroländer also immer wieder an, da Merkel und Co. die neoliberale Ideologie bereits komplett verinnerlicht haben!
Und man kann auch ihnen unterstellen, dass sie wissen was sie tun. Sie wissen, dass eine verantwortungsvolle Koordination von Wirtschafts , Finanz- und Währungspolitik fehlt; sie leugnen dies aber, da Deutschland wegen der niedrigen Zinsen als relativer Gewinner der Krise dasteht!
Dazu kommt die aggressive exportorientierte Wirtschaftspolitik Deutschlands. Jedes Auto, jede Maschine, jedes Medikament, das bei uns produziert und in Südeuropa konsumiert wird, schafft oder erhält hier die Arbeitsplätze, die dort fehlen.
Und das wiederum muss, wenn die Handelsbilanz nicht ausgeglichen ist, mit Krediten bezahlt werden, die die Verschuldung der importierenden Länder abermals in die Höhe treibt!
Und vor all diesen Hintergründen ist besonders peinlich, dass unsere Politiker sich nach wie vor in der Rolle des Schulmeisters oder Musterschülers gefallen:
Liebe Frau Merkel!
Wer 115 Mio. Euro EU-Mittel mit falschen Zahlen abzockt, wer zu dämlich ist, einen Großstadtflughafen termingerecht zu bauen, wer mit einem nun 16-jährigen Planungchaos bei Stuttgart 21 eine ganze Region ins Unglück stürzt; Wer die Lüge, S21 sei doppelt so leistungsfähig wie der Kopfbahnhof, nach wie vor aufrechterhält, der begeht Subventionsbetrug, und der sollte zu angeblichen Schummeleien der Griechen beim EU-Beitritt die Schnauze halten!
Deutschland – halts Maul!
Liebe Freundinnen, liebe Freunde in Spanien und in Griechenland!
Eure beeindruckenden und mutigen Proteste kommen aus weiten Kreisen Eurer Bevölkerungen. Auch unsere Widerstandsbewegung hier gegen Stuttgart 21ist keine Arbeiterbewegung, und sie ist auch nicht nur politisch links zu verorten.
Sie ist eine außerparlamentarische, eine zivilgesellschaftliche Protestbewegung, in den Menschen aus allen Schichten, aus allen Berufen gemeinsam für ein emanzipatorisches Ziel, für eine lebenswerte Stadt kämpfen.
Dieser Kampf dauert nun schon ein paar Jahre.
Und wir haben in dieser Zeit viel gelernt, viel Bewusstsein entwickelt, viele Zusammenhänge erkannt. Wir haben begriffen, gegen wen wir kämpfen. Nicht nur gegen Politmarionetten wie Schuster oder Mappus oder Turner, die wir allesamt zum Teufel gejagt haben, sondern gegen die dahinter stehenden Kapitalinteressen von Spekulanten, denen es in Stuttgart um den teuren Boden des Gleisvorfelds geht, gegen eine mafiöse Bauindustrie, die alles baut, solange sie den Steuerzahler schröpfen kann, gegen eine starke Auto Lobby, die lieber mehr Straßen, Autos und Lkws haben will, als einen guten Bahnknoten.
Viele zigtausend Menschen haben hier begriffen, dass es nicht nur um einen Bahnhof geht, sondern um unsere existentiellen Lebensgrundlagen; es geht um dieselbe Machtfrage wie in der Finanzkrise: Finanzindustrie – oder Gemeinwohlökonomie!
Die – oder wir!
Liebe Spanier, liebe Griechen, liebe Portugiesen, wir verstehen Eure Wut, denn es ist auch unsere Wut, da auch unsere Demokratie, inzwischen substanzentleert, nur noch Vollstrecker von ökonomischen Sachzwängen ist.
Wir erleben hier, wie die Deutsche Bahn, mit freundlicher Hilfe der Politik, mit freundlicher Hilfe unseres Ministerpräsidenten – der konsequent von demokratischer Legitimation spricht, da wir eine Volksabstimmung hatten, die man aber inzwischen unter Wahlbetrug abhaken kann.
Wir erleben hier, wie die Deutsche Bahn ohne rechtliche Legitimation Fakten schafft, mit denen sie uns, und dann wiederum unsere Parlamentarier erpresst, den Irrsinn Stuttgart 21 gegen Recht und Vernunft weiterzubauen!
Wir lassen uns aber nicht erpressen! Wir werden den Erpressern zukünftig gemeinsam begegnen!
Heute – und damit als Ankündigung für die Zukunft – treten europaweit Menschen in einen grenzüberschreitenden Generalstreik. Das ist endlich ein Anfang, der konkrete Folgen haben wird, denn gemeinsam können wir es schaffen!
Und auch in Stuttgart sind wir dabei, eine neue Gemeinsamkeit zu entwickeln. Auf der letzten Großdemo vom 29.9. wurde mehrfach formuliert, dass die globale Antikrisenpolitik und der Widerstand gegen Stuttgart 21 zusammengehören, und zusammenzudenken sind!
Jetzt fehlt nur noch ein Teil der Gewerkschaften – anwesende ausgenommen – der sich beim Großkonflikt gegen Stuttgart 21 immer noch zurück- und raushält.
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, wir werden es aber nur gemeinsam hinkriegen! Denn was uns heute zusammenführt, ist ja ein gemeinsames Problem: Wir erleben in Europa die große Krise des herrschenden Systems, eines Kapitalismus, der das Soziale der Geldvermehrung unterordnet .
Und deshalb kämpfen wir für eine Verweigerung der Schuldenzahlungen; wir fordern die Verstaatlichung des Bankensystems; eine Umverteilung des Reichtums; und wir streiten für eine Ökonomie, die sich endlich nach den Bedürfnissen aller ausrichtet!
Lasst uns den heutigen Tag als ein Initiationsritus begreifen, als den Beginn eines länderübergreifenden, gemeinsamen Aufbegehrens! Als eine internationale Kampfansage an die Protagonisten des Neoliberalismus!
A todos nuestros amigos en el sur de europa:
immer wieder, immer konsequenter, immer zahlreicher und immer europäischer:
oben bleiben!
¡Quer Idas amigas y amigos en Madrid!
¡Un saludo desde Stuttgart!
Nosotros observamos atentoso, que esta pasando con ustedes en España – y tengan por seguro que les prestamos nuestra solidaridad!
También en Alemania nuestros ingresos se reducen, también acá viven mas personas bajo el umbral de la linea de pobreza, también acá hay crecimiento exponencial de los despidos masivos, cierres de empresas.
Quizá ustedes han escuchado de nuestras protestas masivas en el sur-este de Alemania, dirigidas a combatir el proyecto neoliberal de la construcción innecesaria de una estación de tren.
Nosotros protestamos como ustedes bajo las mismas premisas!
Nosotros estamos en contra del imperio del mercado financiero!
Nosotros protestamos contra la especulación y el desmantelamiento del estado social!
Y nosotros protestamos contra nuestro gobierno, que es un gobierno neoliberal!
Desde hoy dejénnos combatir juntos (combatámos juntos)
contra las políticas neoliberales de Europa! Somos muchos y tendremos éxito!
Nosotros les deseamos lo mejor, mucha fuerza y perseverancia!
Les enviamos nuestro lema desde Stuttgart:
¡Quedarse arriba!
¡Quedarse arriba, España!
Liebe Freundinnen und Freunde in Madrid!
Herzliche Grüße aus Stuttgart!
Wir verfolgen sehr aufmerksam, was bei Euch in Spanien passiert, und wir möchten Euch unserer uneingeschränkten Solidarität versichern!
Auch unsere Realeinkommen in Deutschland sinken; auch hier leben immer mehr Menschen an oder unter der Armutsgrenze; auch hier gibt es Massenentlassungen; Werksschließungen stehen uns bevor.
Vielleicht habt Ihr von unserer großen Protestbewegung gehört, die sich hier im Südwesten Deutschlands gebildet hat, ausgelöst durch den Kampf gegen ein neoliberales Bahnhofsprojekt.
Wir protestieren in Stuttgart gegen dieselben Instanzen wie Ihr:
Wir protestieren gegen das Imperium der Finanzmärkte,
wir protestieren gegen Spekulanten und gegen Sozialabbau,
und wir protestieren gegen unsere Regierung, die all das stützt und vertritt!
Lasst uns ab heute gemeinsam und europaweit gegen den neoliberalen Umbau unserer Gesellschaften kämpfen!
Wir sind sehr viele – und wir werden erfolgreich sein!
Wir wünschen Euch alles Gute, viel Kraft und Durchhaltevermögen,
und schicken Euch unseren Stuttgarter Schlachtruf:
oben bleiben!
Oben bleibt Spanien!“
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