Farbensinn

Farbensinn, die Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für die Reize der Farben, sowohl in ihrer einfachen Erscheinung als in ihrer Zusammenwirkung. In der ältern Auffassung, nach welcher man in den Farben der Naturdinge nur einen für den Menschen bestimmten Schmuck sah, konnte der F. kaum ein andres als das ästhetische Interesse beanspruchen; aber die neuere Weltanschauung, die alle Erscheinungen auf ihren Nutzen und ihre Entstehungsweise prüft, gab, nachdem sie in den Farben der Pflanzen und Tiere bestimmte Beziehungen nachgewiesen hatte, auch der Farbenbetrachtung einen tiefern Hintergrund. Die Farben und Zeichnungen der Blumen wurden ihr als Anziehungsmittel für Tiere, die zu deren Befruchtung beitragen, die Farben der Früchte als Anlockungsmittel für Tiere, die deren Aussäung bewirken, die Farben und Zeichnungen der Tiere teils als Verbergungsmittel ihren Feinden oder Beutetieren gegenüber, teils als Erkennungsmittel der wegen übeln Geschmacks etc. gemiedenen Tiere verständlich (vgl. Darwinismus, bes. S. 566).

Eine unmittelbare Folge dieser Auffassung der Naturfarben als Anziehungs-, Verbergungs-, Erkennungs- und Erregungsmittel bestand nun darin, daß den Tieren ein F. in weiterer Ausdehnung zugeschrieben werden mußte, als man bis dahin geglaubt hatte, und dies wurde durch einschlägige Untersuchungen zahlreicher Naturforscher, namentlich von Darwin, Wallace, H. Müller, Lubbock, Graber u. a., bestätigt. Die Vorliebe der Insekten für bestimmte Blumenfarben wurde dabei teils durch eine Statistik ihrer Besuche, teils durch Versuche mit farbigen Papieren, auf denen Honigtröpfchen verteilt wurden, ermittelt und dadurch unter anderm die Vorliebe der Zweiflügler für weiße, gelbe und mißfarbene, die der Hautflügler für blaue, violette und rote, die der Tagschmetterlinge für reinblaue und karminrote Blüten bewiesen, so daß angenommen werden konnte, diese Blütenfarben seien von ihnen gezüchtet worden. Nicht ganz so einwandfrei sind die von Lubbock begonnenen Versuche, bei denen Reihen farbiger Gläser über die Behälter, in denen sich Wassertiere, Insekten etc. befanden, gelegt und Schlüsse aus der Bevorzugung des Aufenthalts unter dem einen oder andern Glas gezogen wurden. Denn hierbei kommt offenbar auch das ungleiche Durchlassungsvermögen der verschiedenen Farbengläser für die Wärmestrahlen in Betracht, weshalb z. B. die Schlüsse Lubbocks, nach denen der F. der Ameisen von dem der Menschen ganz verschieden sein soll, mit großer Vorsicht aufzunehmen sind. Was den F. des Menschen betrifft, so hatte der Mangel an bestimmt unterscheidenden Farbenbezeichnungen bei Homer und in den ältesten Religionsschriften (Bibel, Weda, Zendavesta etc.) den englischen Staatsmann Gladstone, Geiger und andre Kulturhistoriker zu dem Schluß verführt, daß der Mensch in ältern Zeiten einen weniger entwickelten F. besessen habe als heute, indem er noch zur Zeit der Abfassung jener Schriften nur Rot und Gelb deutlich zu unterscheiden im stande gewesen sei, dagegen Grün, Blau und Violett mehr oder weniger mit Grau und Schwarz verwechselt habe. Magnus fügte dazu die Hypothese, daß die Entwickelung des Farbensinns in der Reihenfolge der Spektralfarben vor sich gegangen sei, daß nach Rot und Gelb zuerst Grün, dann Blau und zuletzt Violett unterschieden worden sei, über welches der F. des heutigen Menschen hinauszugreifen beginne, und daß die Farbenblindheit heute lebender Personen mithin als Atavismus aufzufassen sei. Diese sehr weit ausgesponnenen Träumereien wurden zuerst (1877) von E. Krause widerlegt, welcher nachwies, daß die Menschen seit jeher die einzelnen Farben deutlich unterschieden haben, und daß der Mangel bestimmter Farbenbezeichnungen bei den alten Kulturvölkern einer Unvollkommenheit ihrer Sprache und nicht ihres Auges zuzuschreiben sei, daß sich bei heute lebenden Völkern niederer Bildungsstufe ähnliche Sprachlücken fänden, ja daß den Übergangsfarben (Orange, Lila, Violett und Pensee) auch in den modernen Sprachen erst in neuerer Zeit besondere Namen gegeben worden seien. Krause empfahl, die Richtigkeit seiner Auffassung durch Studien über den F. der Naturvölker zu prüfen, wie sie dann unverweilt durch Grant Allen, Virchow, Almquist, Cohn, Kotelmann u. a. angestellt wurden und ergaben, daß die Naturvölker meist einen sehr ausgebildeten F. besitzen und die feinsten Nüancen unterscheiden, aber allerdings häufig einen Mangel an Bezeichnungen für dieselben zeigen. Von dem elementaren F., dessen teilweiser oder vollständiger Mangel als Farbenblindheit (s. d.) bezeichnet wird, ist der durch Schulung und Erziehung des Auges zu verbessernde Sinn für geschmackvolle Zusammenstellung der Farben (s. Farbenharmonie), welcher der Kleidung, Dekoration und allen Schaustückenden höchsten Reiz verleiht, deshalb dem Maler und andern Künstlern unentbehrlich ist, wohl zu unterscheiden. Darwin und Preyer haben bemerkt, daß junge Kinder den Farben wenig Interesse entgegenbringen und erst in einem gewissen Alter dazu gelangen, sie richtig zu benennen; der F. verlangt daher ebenso wie der Formensinn eine besondere Schulung. Die Naturmenschen ziehen in der Regel grelle Farben und schreiende Kontraste den stumpfern Farben und gemäßigten Übergängen vor, welche das gebildete Auge erfreuen; doch findet sich nach Hartmann schon bei manchen afrikanischen Naturvölkern ein sehr ausgebildetes Gefühl für harmonische Farben. Vgl. Graber, Grundlinien zur Erforschung des Helligkeits- und Farbensinns der Tiere (Prag u. Leipz. 1884); Gladstone, Studies on Homer (Oxford 1850); Laz. Geiger, Über den F. der Urzeit und seine Entwickelung (Stuttg. 1871); Magnus, Die geschichtliche Entwickelung des Farbensinns (Leipz. 1877); Gladstone, Der F. (Bresl. 1878), und die Kritik dieser Werke von E. Krause im „Kosmos“, Bd. 1 u. 3 (Leipz. 1877-79); Dor, L’évolution historique du sens des couleurs (Par. 1878); Marty, Die Frage nach der geschichtlichen Entwickelung des Farbensinns (Wien 1879); Allen, Der F. (Leipz. 1880).

Schreibe einen Kommentar