Idealismus

Idealismus, im Gegensatz zum Realismus (s. d.) diejenige philosophische Ansicht, welche die Erscheinungswelt, die Dinge außer unserm Geist, als Produkte der Vorstellung betrachtet, ihnen also nur insofern Existenz und Wirklichkeit beilegt, als sie in unserm Geist als Vorstellungen und Anschauungen, d. h. als ein Ideales, existieren (vgl. Ideal). Der I. gehört ausschließlich der neuern Philosophie an. In der Geschichte der Philosophie des Altertums und des Mittelalters finden sich kaum Anfänge desselben vor; die vorcartesianische Philosophie ist ihrem ganzen Wesen nach realistisch. Die Ausbildung des I. zum System hängt zusammen mit den Untersuchungen über die Möglichkeit objektiver Erkenntnis, mit welchen sich die Denker seit Descartes vorzugsweise beschäftigt haben. Indem dieser das denkende Subjekt als Ausgangspunkt alles Philosophierens setzte und gegen alles andre als ein Gegebenes protestierte, indem er ferner den Gegensatz zwischen Sein und Denken, Dasein und Bewußtsein nachwies und die Vermittelung dieses Gegensatzes (das Problem der ganzen neuern Philosophie) als philosophische Aufgabe hinstellte, waren auch die beiden Wege geöffnet, auf welchen die Philosophie von da an sich entwickeln mußte: der I. und der Realismus. Während aber Descartes und Malebranche noch nicht bis zum entschiedenen I. vordrangen und Spinoza sich über den Streit, was wahre Existenz habe, das Ideale oder das Reale, der Geist oder die Materie, dadurch erhob, daß er, das eine wie das andre verwerfend, nur die absolute Substanz, in der beide völlig aufgehen, als das Seiende anerkannte, alles Sein aber, das den Einzelwesen beigelegt wird, nur als Accidens an der einen allein realen Substanz gelten ließ, bildeten sich die entgegengesetzten Systeme des I. und Realismus fast gleichzeitig nebeneinander aus. Auf der realistischen Seite stehen die Empiriker Locke, Hume, Condillac u. a.; der I. findet seine bedeutendsten Vertreter zunächst in Leibniz und Berkeley. Der empiristisch-sensualistischen Richtung war das Geistige nichts als eine verfeinerte Materie; die idealistische Richtung sucht umgekehrt die Materie als ein vergröbertes Geistige (als verworrene Vorstellung, wie Leibniz sich ausdrückt) zu fassen. Für den einseitig realistischen Standpunkt waren die materiellen Dinge das wahrhaft Substantielle; umgekehrt setzt der idealistische Standpunkt die geistigen Wesen, die Ichs, als das Substantielle. Nach der erstern Ansicht war das Erkennen ein passives, nach der letztern wird es für ein aktives Verhalten erklärt. Hatte der Realismus das Werden und Geschehen in der Natur vorzugsweise aus realen Bestimmungsgründen, d. h. mechanisch, zu erklären gesucht, so suchte es der I. umgekehrt aus idealen Bestimmungsgründen, d. h. teleologisch, zu erklären, indem er in den Zweckbegriff, in die teleologische Harmonie aller Dinge (prästabilierte Harmonie), die Vermittelung zwischen dem Geistigen und Materiellen, zwischen Denken und Sein, setzte. Leibniz führte die idealistische Auffassung noch nicht bis zur äußersten Konsequenz durch. Er bezeichnete zwar Raum, Bewegung und die Körperdinge als Phänomene, die nur in der verworrenen Vorstellung existierten; doch leugnete er anderseits das Dasein einer substantiellen Grundlage der Körperwelt nicht, sondern nahm eine Monadenwelt an, an welcher die erscheinende Körperwelt ihr festes Fundament habe. Die Verbindung des Geistigen und Körperlichen erklärte ihm die prästabilierte Harmonie, eine von Ewigkeit her nach teleologischen Zwecken bestimmte Weltordnung, bei welcher die Intelligenz die Hauptrolle spielt, die Materie zwar nicht als solche, aber durch ihre reale Grundlage, die einfachen Substanzen, vertreten erscheint. So hat Leibniz, obwohl im wesentlichen dem I. huldigend, doch mit dem Realismus nicht gebrochen. Viel weiter ging Berkeley. Er leugnete geradezu, daß die Sinnendinge anderswo als in der Vorstellung Existenz haben, und bezeichnete jene deshalb als etwas rein Mentales. Es existieren nach ihm bloß Geister, d. h. denkende Wesen, deren Natur im Vorstellen und Wollen besteht. Er leugnet dabei nicht, daß die Dinge eine von unsrer Vorstellung unabhängige Realität haben; aber sie existieren doch nur in einem Verstand, nämlich in Gott, wo ihre Urbilder liegen, und nur unmittelbar durch Gott erhalten wir von ihnen Vorstellungen; denn nur ein Geistiges kann auf unsern Geist einwirken. Der Berkeleysche I. erklärt also nicht den menschlichen, sondern den göttlichen Geist für den Urheber der Vorstellungen von einer scheinbar realen Welt. Den Berkeleyschen I. hat man später den dogmatischen genannt, weil er auf der positiven Annahme des Aufgehobenseins des Materiellen in Gott ruht.

Der eben geschilderte I. hatte dem Ich die Rolle der reinen Aktivität, der Selbstgenügsamkeit, der Souveränität über die Sinnenwelt übertragen, während der Empirismus dasselbe zur reinen Passivität verdammte. Kant suchte die Ansprüche beider auszugleichen, indem er sich dahin entschied: das Ich ist frei und autonom, unbedingter Gesetzgeber seiner selbst als praktisches Ich; es ist rezeptiv und durch die Erfahrungswelt bedingt als theoretisches Ich; jedoch auch als solches ist es nicht rein passiv, nicht toter Spiegel der Außendinge; denn wenn einerseits auch der Stoff aller unsrer Erkenntnisse aus der Erfahrung stammt, so brauchen wir doch zur Erfahrung Begriffe, die nicht durch die Erfahrung gegeben werden, sondern als ein geistiger Faktor a priori in unserm Verstand enthalten sind. Kant kommt so zu dem Satz, daß wir nur Erscheinungen, nicht die Dinge an sich zu erkennen vermögen. Der von der Außenwelt aus gebotene Erfahrungsstoff wird durch unsre eignem subjektiven Zuthaten (die Begriffe des Raums, der Zeit und die allgemeinen Verstandeskategorien) so zubereitet und bez. alteriert, daß er, wie der Widerschein eines leuchtenden Körpers, der auf einer Glasfläche mannigfaltig gebrochen wird, nicht mehr die Sache rein und unvermischt in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit darstellt. Bis hierher ist das Kantsche System nichts weniger als reiner I.; es ist vielmehr eine Vermittelung zwischen I. und Realismus, ein kritischer I. Nun aber erhebt es sich in der praktischen Philosophie schlechthin über das Gegebene (den sinnlichen Trieb) hinaus. Der praktische Geist ist nur durch das Sittengesetz, das er selbst ist, bestimmt, also frei und autonom; die Objekte sind nicht mehr seine Herren und Gesetzgeber, denen er sich zu fügen hat, wenn er der Wahrheit teilhaftig werden will, sondern seine Diener, die selbstlosen Mittel zur Verwirklichung des Sittengesetzes. War der theoretische Geist an die Sinnenwelt geknüpft, so gehört der praktische kraft der ihm wesentlichen Freiheit, vermöge seiner Richtung auf den absoluten Zweck einer rein intelligibeln, übersinnlichen Welt an. Dies ist der praktische, transcendentale I. Kants, aus dem er sofort die drei praktischen Postulate, die Unsterblichkeit der Seele, die sittliche Freiheit und das Dasein Gottes, ableitet.

Den hier geschilderten Kantschen Dualismus, wonach das Ich bald als theoretisches Ich der Außenwelt unterthan, bald als praktisches Ich ihr Herr ist, wonach es sich zur Objektivität bald rezeptiv, bald spontan verhält, bildete Fichte dadurch zu seiner Konsequenz durch, daß er die Vernunft ausschließlich praktisch, nur Willen, nur Spontaneität sein ließ und selbst ihr theoretisches, rezeptives Verhalten zur Objektivität nur als verringerte Thätigkeit, als eine von der Vernunft selbst gesetzte Beschränktheit auffaßte. Für die Vernunft, sofern sie praktisch ist, gibt es keine Objektivität, außer insofern sie hervorgebracht werden soll. Der Wille kennt nur ein Sollen, kein Sein. Damit ist das Objektivsein der Wahrheit überhaupt geleugnet, und das unbekannte „Ding an sich“, welches sich nach Kants Ansicht der Erkenntnis fort und fort entzieht, fällt als leerer Schatten von selbst weg. „Alles, was ist, ist Ich“ wird das Prinzip des Fichteschen Systems, welches eben hierdurch den subjektiven I. in seiner Konsequenz und Vollendung darstellt. Wenn aber Fichte die Identität des Denkens und Seins, des Subjektiven und Objektiven, zunächst nur noch im Ich (nicht dem empirischen und individuellen, sondern dem reinen und allgemeinen) einschloß, so trug dagegen die Identitätsphilosophie Schellings kein Bedenken, diese Identität des Denkens und Seins auch unabhängig vom Ich an die Spitze des Systems zu stellen und den Begriffen und Ideen, sowohl im Gebiet des Geistigen als des natürlichen Daseins, kraft der intellektuellen Anschauung eine absolute Produktivität zuzuschreiben. Deshalb hat man das Schellingsche System objektiven I. genannt. Denken und Sein unterscheiden sich hiernach bloß dadurch, daß jenes ein selbstbewußtes, dieses ein unbewußtes Sein ist. Eine Thätigkeit, die sich selbst erblickt, erscheint sich als Selbstthätigkeit; eine Thätigkeit aber, die nur von andern Augen erblickt wird, erscheint als objektive Bewegung. Nun ist zwar in der ganzen Natur Subjektivität, denn die Natur ist in sich absolute Selbstbewegung; aber nicht jeder einzelne Teil oder jedes Organ dieser Natur kann, als Einzelheit, sich in dieser Selbstbewegung gewahr werden; daher gibt es Einzelwesen, welche sich ihrer Aktivität noch nicht bewußt sind, und zu dieser Klasse gehört alles, was wir als Materie oder Vernunftloses bezeichnen; es ist eine niedere Potenz der Vernunft, eine gleichsam noch schlummernde Intelligenz, aber doch nichts von dem denkenden Geist spezifisch Verschiedenes. Von dem objektiven I. Schellings ausgehend, sich aber dann mehr der Fichteschen Ansicht zuwendend, bildete endlich Hegel das System des absoluten I. aus. Während Fichte sagte: „das Ich, das Denkende, ist“, erklärt Hegel: „Das Denken, der Begriff, die Idee, oder vielmehr der Prozeß, das immanente Werden des Begriffs ist das allein Wirkliche und Wahre. Objektivität ist nichts andres als Realität des Begriffs; die Idee ist die höchste logische Definition des Absoluten, die unmittelbare Existenz der Idee aber nennen wir Leben, Lebensprozeß, die Natur ist die Idee in der Form des Andersseins, die sich selbst äußerlich gewordene Idee, der sich entfremdete Geist; kurz, alles Materielle hat den Geist zum Fundament und ist nichts als eine besondere Denkform, eine höhere oder niedere geistige Funktion.“ Bis jetzt ist es noch keiner Form des I. gelungen, die dualistische Weltansicht des gemeinen Bewußtseins, wonach Geist und Körper, Materielles und Ideelles, als generisch verschiedene Dinge betrachtet werden, zu verdrängen; allein das Verdienst hat sich der I. erworben, daß er die materialistische, den Geist verleugnende Anschauung bekämpfte und die Natur wie das Leben von einem höhern Gesichtspunkt betrachten lehrte, wie denn insbesondere der Fichtesche I. in der Geschichte der Philosophie für alle Zeiten einen wichtigen Durchgangspunkt des spekulativen Denkens bezeichnen wird.

Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens
4. Auflage, 1885-1892, 16 + 3 Bände, 16.600 Seiten, 200.000 Exemplare