Baden-Württemberg, 26. Januar 2012, wenige Tage vor dem Großangriff der DB AG auf Stuttgart

Baden-Württemberg, 26. Januar 2012, wenige Tage vor dem Großangriff der DB AG auf Stuttgart

Warum gute Demokraten die Baumfällungen im Stuttgarter Park verhindern müssen

Warum es sich in diesem Fall um Zivilen Ungehorsam handelt, der zum einen legitim und darüber hinaus ein wichtiges Element zur Wahrung unseres demokratischen Rechtsstaates ist

Verantwortlich für diesen Beitrag:
Uwe Mannke, Oberboihingen und Sylvia Heimsch, Stuttgart
Download als pdf: Gute Demokraten verhindern Baumfällungen im Park.pdf

  1. Korruptionsmentalität
  2. Schutz des Lebens und der Kultur
  3. Rechtsbewusstsein
  4. Erkenntnisund Handlungsfähigkeit
  5. Konsequenz und Perspektive
  6. Beantwortung der Eingangsfragen

1. Korruptionsmentalität

Wir stehen vor dem Rätsel, warum eine Politik – auch unter der Beteiligung von Grünen-ParteiPolitikern – in schlimmer Weise vernünftige Argumente(1) gegen das Projekt Stuttgart 21 ignoriert und autistisch eine zerstörerische Umkrempelung eines städtischen Kultur-Lebensraums, auch für viele Tiere und Pflanzen, und eines verhältnismäßig ökologischen Verkehrssystems zugunsten einer aus dem Ruder laufenden Profitmaschinerie zulässt, ja ihr sogar mit staatlichen Machtmitteln freies Geleit(3) gibt.

Es gibt Darstellungen, die wichtige Projekt-Akteure im Zusammenhang mit einem Kartellring(4) von Vorteilsgebern und -nehmern sehen. Doch es gibt Heerscharen von Fachkräften, die an diesem Gewinnspiel teilnehmen und die ihr Denken und Handeln in erster Linie daran ausrichten, wie sie dazugehören, ihre Karriere daran entwickeln und natürlich auf bequeme Weise zu viel Einkommen und Gewinn gelangen. Das reicht von Spitzenverdienern bis zu kleinen Angestellten, solange überhaupt eine Gewinnerwartung vorliegt oder Verlustangst besteht. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, wo die Erpressbarkeit in diesem Zusammenhang aufhört; es muss aber vermutet werden, dass sie weit in das Lager der S21-Gegner hineinreicht. Auch hier will man seinen Lohn/Arbeitsplatz nicht verlieren.

Basisfehler bei diesem Denken ist, dass das eigene Handeln nicht mehr an Idealen bzw. höheren Werten also Moral ausgerichtet ist, sondern an Besitz, Einkommen und Macht. Hier ist nicht nur eine Willfährigkeit gegenüber wirtschaftlichem Druck zu erwarten; darüber hinaus leidet überhaupt die Einstellung zur eigenen Arbeit, zur Berufung, wenn nicht mehr über die Sinnhaftigkeit des eigenen Arbeitseinsatzes nachgedacht werden kann.

2. Schutz des Lebens und der Kultur

Wir reden über Werte, die sich nicht in Geld beziffern lassen und sie werden durch die entsprechenden Vokabeln erst wirksam, weil sie den hierüber Sprechenden und Zuhörenden wesenhafte Begriffe sind. Begriffe, die im Wortsinn mit den Händen gegriffen werden können, die lebendig sind, die das Leben repräsentieren, und nicht tote Worthülsen. Solche Werte werden formuliert, wenn von Denkmalschutz und Artenschutz gesprochen wird oder von einem „begehbaren Gedächtnis“(5). Aber auch zeitgemäße Verkehrskonzepte sind ein Teil unserer Kultur. Immer geht es um das Zusammenleben der Menschen untereinander, mit der Tierund Pflanzenwelt, um die Berücksichtigung des Stadtklimas, das wiederum korrespondiert mit dem kulturellen Leben und dieses wiederum wird getragen von Geschichts- und Umweltbewusstsein.

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Offener Brief von Guntrun Müller-Enßlin an MP Kretschmann bezüglich drohender Baumfällungen im Mittleren Schlossgarten

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
in diesen Tagen erwarten wir die Stellungnahme des Eisenbahnbundesamts in Bezug auf die geplanten Baumrodungen im mittleren Schlossgarten für Stuttgart 21. Aufgrund fehlender anders lautender Signale Ihrerseits in der vergangenen Zeit stehen die Zeichen für die Gegner des Großprojekts Stuttgart 21 auf Alarm, müssen wir doch davon ausgehen, dass die Fällung der Bäume im Schlossgarten, darunter vieler prachtvoller mehrhundertjähriger Riesen unmittelbar bevorsteht. Es sieht so aus, als könne nichts mehr diesen barbarischen Akt aufhalten. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle mit einem eindringlichen Appell an Sie, den Menschen, den Christen, den GRÜNEN Winfried Kretschmann wenden.

Eine auch Ihnen bekannte Mitstreiterin, die mir in den letzten anderthalb Protestjahren eine gute Freundin geworden ist, hat mir einmal geschrieben: „Ich habs ja nicht so mit der Sünde – aber die Bäume im Schlossgarten zu fällen, das ist eine!“ Recht hat sie! Unser Schlossgarten mit seinem vielfältigen Baumbestand mitten in der City, um den uns andere Städte beneiden, dieser Schlossgarten ist etwas vom besten, was Stuttgart zu bieten hat! Es will einem nicht in den Kopf, dass es möglich sein soll, die Instrumente unserer Demokratie zur Durchsetzung einer solch bodenlosen Dummheit wie der Zerstörung dieser für das Stadtklima unbedingt notwendigen Oase zu missbrauchen. Anders gefragt: Muss man wirklich zulassen, dass einem kollektiven Organismus, zu dem man selber gehört, die Lunge herausgeschnitten wird, nur weil eine Mehrheit sich dafür ausgesprochen hat, in Zukunft ohne Lunge leben zu wollen?

Da Sie vor Ihrer Wahl zum Ministerpräsidenten auf unserer Seite gegen das Projekt gestritten haben, müsste Ihnen bewusst sein, dass die Baumfällungen den neuralgischen Punkt der Bewegung treffen, an dem diese am empfindlichsten reagiert. Die Fällungen werden bei den Mitstreitern gegen S21 eine Narbe hinterlassen, die sie diesen mit Billigung Ihrer Regierung begangenen Frevel weder verzeihen noch vergessen lassen werden. Der Makel der Schlossgartenrodung wird für alle Zeit nicht nur an Ihrer grünen Partei, sondern insbesondere an Ihrer Person und Ihrem Namen kleben bleiben wie Pech, sehr zum Wohlgefallen der Projektinitiatoren, die diese unrühmliche Rolle an Sie weiterreichen konnten mit dem für sie angenehmen Nebeneffekt, die Bewegung der Obenbleiber und die GRÜNE Landesregierung zu spalten und gegeneinander auszuspielen. Doch nicht nur Projektgegner und der grüne Teil Ihrer Regierung werden in Zukunft auseinanderdividiert sein, sondern auch quer durch die Partei der GRÜNEN wird sich ein Riss ziehen. Das alles wird in der Folge dazu führen, dass Ihre Partei bei einer Wahl in Baden-Württemberg in Zukunft nie wieder einen Fuß auf den Boden bekommen wird.

Ich appelliere deshalb an Sie und an die Adresse der GRÜNEN Mitglieder in der Landesregierung: Machen Sie sich nicht mit den Baumfällungen zu Handlangern der Betreiber- und Befürworterseite, die Sie nichts lieber als in der Rolle der Exekutoren jenes miesesten aller Jobs im Vorfeld ihres Bauvorhabens sehen wollen. Machen Sie sich nicht die Finger schmutzig mit diesen Fällungen, die alles konterkarieren, was Ihre Partei sich je auf die Fahnen geschrieben hat. Wer A sagt, muss nicht B sagen, wenn er erkannt hat, dass B falsch ist (Dies sagt nicht Hannah Arendt sondern Bertold Brecht). Und wer zugleich mit dem Ausgang des Volksentscheids sein Gewissen und seinen gesunden Menschenverstand wie ein unmodisch gewordenes Kleidungsstück in die Mottenkiste legt, kann irgend etwas in Sachen Demokratie nicht richtig verstanden haben.

Sie wissen, wie wir alle, dass die drohenden Fällungen im Schlossgarten kein Schicksal sind. Kein Wunder ist nötig, um sie zu verhindern. Es würde genügen, wenn Sie die Argumentationsspielräume ausschöpfen würden, die Sie mit der Ausformulierung Ihres eigenen grünroten Koalitionsvertrags festgeschrieben haben.

Ein Letztes: Sie täuschen sich, falls Sie darauf bauen, dass der Protest der Obenbleiber aufhören und Sie als Regierungskoalition Ruhe bekommen werden, wenn im Schlossgarten das Opfer der Baumfällungen vollbracht sein wird. Bewegungen wie die unsere finden nur aus einem einzigen Grund ein vorzeitiges Ende: dann nämlich, wenn offensichtlich ist und man zugeben muss, dass man sich in der Sachlage getäuscht hat. Das aber ist bei uns nun gerade nicht der Fall. Uns macht jeder Tag sicherer, dass wir uns nicht täuschen. Jeder Tag bringt in Bezug auf Stuttgart 21 neue pikante, prekäre und hochpeinliche Details ans Licht, die die vielen klugen Köpfe in unserer Mitte schon lange vorhergesagt haben. Glauben Sie also nicht, die Schaffung unumkehrbarer Tatsachen werde unseren Widerstand schon zum Erlöschen bringen. Das Gegenteil wird der Fall sein. Sie werden uns nicht los, es sei denn, das Projekt stirbt, und es wird sterben. Geben Sie bis dahin nicht weiter die Marionetten im Theaterstück der Bahn, sondern steigen Sie endlich aus jener perfiden Inszenierung aus, an dessen Ende im Herzen von Stuttgart nicht nur denkmalgeschützte funktionsfähige Bausubstanz, sondern vor allem intakte Natur unwiederbringlich zerstört sein wird.

Guntrun Müller-Enßlin

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